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Höhenrausch & Meeresrauschen

  • Autorenbild: Fahrni Nicole
    Fahrni Nicole
  • 13. Okt.
  • 5 Min. Lesezeit
Vom Gipfel des Mt. Kenya zum Strand von Sansibar - Das Rauschen der Woche 37

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Der Lichtkegel meiner Stirnlampe frisst ein Loch in die Nacht. Schritt für Schritt steigen wir höher, hinein in die Dunkelheit, hinein in die Stille.

Es ist drei Uhr früh, das Camp liegt hinter uns, der Gipfel irgendwo über uns.

Die Kälte beisst, der Atem geht rau und dünn auf 4000 Metern über Meer. Nur unser Stapfen auf losem Gestein durchbricht die Stille.

Das Gelände wird steiler, die Tritte schwerer. Ich fixiere mich auf den kleinen Kreis aus Licht vor meinen Füssen.


Vor mir spurt Simon, unser Guide, hinter mir kämpft sich Lorenz den Berg hoch. Alle dreissig Minuten halten wir kurz an, trinken ein paar Schlucke Wasser, atmen tief durch. Dann weiter, immer weiter.

Wir sind am Äquator und sehen aus wie Polarforscher: Mütze, Handschuhe, Daunenjacke.

Der Vollmond hängt gross und rund am Himmel und leuchtet uns wie eine Laterne den Weg.


Nach zweieinhalb Stunden erreichen wir die Austrian Hut auf 4'790 Metern. Ein kurzer Halt, ein Gang zur Toilette, dann folgt der letzte Anstieg. Von hier unten wirkt der Gipfel gleichzeitig nah und furchteinflössend fern. Der Pfad ist jetzt nur noch Fels, die Hände kommen zum Einsatz, manchmal helfen fixierte Seile. Ich bin froh, dass es noch dunkel ist - so nehme ich die Abgründe nur schemenhaft wahr.


Dann, plötzlich, färbt sich der Horizont im Osten rötlich. Ein Blick auf die Uhr: Wir werden es schaffen.

Diese Gewissheit gibt neue Kraft. Noch eine Leiter, noch ein paar letzte, zittrige Tritte - und dann stehen wir oben. Oben auf dem Berg, der die letzten 8 Monate über uns gethront hat. Lenana Peak Mt. Kenya - auf 4'985 Metern über Meer!


Euphorie rauscht durch den Körper, Adrenalin macht uns leicht. Der Himmel brennt in allen Rot- und Rosatönen, während wir am Gipfelkreuz stehen, lachen, plaudern, fotografieren - und dann verstummen, als die Sonne wie ein glühender Ball über den Horizont steigt. Für einen Moment ist es, als ginge sie heute nur für uns auf.



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Um halb neun erreichen wir nach einem steilen und schnellen Abstieg das Shipton Basecamp auf 4'200 m. Der Gipfelmoment hallt noch nach, als wir von unserem fünfköpfigen (!) Team mit einem gedeckten Tisch und einem dampfenden Frühstück empfangen werden. Bei einem Gipfeltrekking in Kenia gehört eine Entourage aus Guide, Koch und Träger dazu.


Milchreis dampft in einer Schüssel, daneben liegen frisch gebackenes Brot und fluffige Pancakes. In der Mitte ein Teller mit aufgeschnittenen Früchten, daneben duftet starker Kaffee.

Was für ein Kontrast: eben noch eisige Luft, dünner, Atem, steile Felsen - jetzt Wärme, Fülle und fürsorgliche Gastfreundschaft.

Wir stossen an - mit einer Tasse heissem Kaffee.


Noch während wir das Frühstück geniessen, kommt Simon zu uns. "Überlegt euch, ob ihr noch bis nach Old Moses absteigen wollt", sagt er. "Mehr Platz, mehr Komfort - und wir sind früh dran."

Old Moses liegt auf 3'300 m, also 900 Meter tiefer und 15 Kilometer von Shipton Camp entfernt. Der Gedanke klingt gleichzeitig verlockend und einschüchternd. Noch einmal vier, vielleicht fünf Stunden?


Wir schnappen uns eine Tasse Tee und setzen uns hinaus auf die von der Sonne gewärmten Felsen. Die Müdigkeit hängt schwer in den Gliedern.

Eine Handvoll Rock Hyrax - murmelähnliche Tiere - beäugen uns neugierig.

Shipton ist voll, überall Stimmen, quietschende Türen, das Rufen der Guides.

Wir entscheiden: heute noch absteigen.


Nach knapp zwei Stunden Pause brechen wir auf. Zunächst kommen wir schnell voran - der Weg führt sanft bergab, der Boden ist trocken, die Beine wieder erstaunlich kooperativ. Ausserdem tragen wir kaum Gepäck.

Doch bald schon ziehen Wolken auf. Zunächst nur ein grauer Schleier, dann ein Donnern in der Ferne. Wir packen Regenjacken und -hosen aus, als die ersten Tropfen fallen.

Minuten später schüttet es. Immer wieder blitzt es. Der Regen prasselt auf uns nieder, der Pfad verwandelt sich in einen Bach.


Wir erreichen den ersten Fluss, überqueren die Brücke zügig. Beim Aufstieg aus dem Flusstal kommen uns kleine Rinnsale entgegen, die rasch zu Bächen anschwellen. Simon wird unruhig. Der zweite Fluss, sagt er, könne bei Gewittern gefährlich werden. Manchmal schwemmt das Wasser dort die Brücke weg. Und einen Alternativweg nach Old Moses gibt es nicht.


Also gehen wir schneller, während gleichzeitig das Gore-Tex langsam den Kampf gegen den Regen verliert. Wasser rinnt in die Schuhe, sammelt sich in den Ärmeln.

Der Wind peitscht, die Sicht ist schlecht.

Wir erreichen die Brücke, sie steht noch - gerade so. Der Bach ist angeschwollen, der Pfad ein reissendes Rinnsal. Wir springen von Stein zu Stein, suchen nach festen Tritten. Simon eilt voraus, wählt den Weg, wir folgen seinen Spuren, so gut es geht.


Als wir kurz darauf auf einer Anhöhe stehen, sehen wir zurück - der Fluss ist jetzt ein brauner Strom. Uff. Unklar, ob wir da noch rübergekommen wären.


Von da an ist es nur noch Durchhalten. Alles nass, alles kalt, die Füsse schwer. Eine Pause? Keine Option. Aufgeben? Noch weniger. Als wir bei einer kleinen Wettermessstation vorbeikommen, muss ich lachen: Drei Tage lang sind wir immer wieder an meteorologischen Geräten vorbeigewandert - und trotzdem stapfen wir jetzt mitten durch ein Gewitter, das niemand vorausgesagt hat.


Unter normalen Umständen wären es von hier 40 Minuten bis zum Camp. Heute dauert es doppelt so lang. Der Weg ist zum Fluss geworden, das Wasser schiesst talwärts. Um 17 Uhr erreichen wir endlich Old Moses - vierzehn Stunden, nachdem wir frühmorgens losgelaufen sind.


Als wir unser Team wiedersehen, sind auch sie durchnässt. Niemand hat Lust, in feuchten Schlafsäcken zu übernachten. Also rufen wir ein Taxi. Ein Sechssitzer, der irgendwie neun Personen und ebenso viele Rucksäcke fasst. Ich bin zu müde, um mir Sorgen zu machen. Nur ein-, zweimal greife ich kurz an den Vordersitz, als der Fahrer mit Tempo 100 um eine enge Kurve schiesst.


Im Dunkeln erreichen wir Nanyuki. Unsere Energie reicht gerade noch, um die nassen Sachen aufzuhängen. Dann fallen wir ins Bett. Dreizehn Stunden später wachen wir wieder auf - durchgeschlafen.


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Drei Tage später. Meereshöhe. Dreissig Grad. Sand zwischen den Zehen.

Die tansanische Sonne prallt auf die Haut, als müsste sie nachholen, was der Berg uns entzogen hat.

Wir sind auf Sansibar, der Kopf noch halb am Mt. Kenya, halb schon im Inselmodus.


Anfang Woche standen wir auf fast 5'000 Metern - eingepackt in Daunen, die Gesichter vom Wind gegerbt.

Jetzt riecht alles nach Salz und Sonnencrème, nach süssen Früchten und frischem Fisch.


Wieder bestaunen wir frühmorgens den Sonnenaufgang - zum zweiten Mal in einer Woche. Diesmal über dem Indischen Ozean. Barfuss im feinen, weissen Sand.


Später stehe ich bis zur Hüfte im lauwarmen, türkisblauen Wasser. Der Wind spannt das Kitesegel, zieht an den Leinen, zerrt an mir. Ich lehne mich dagegen, lasse mich ziehen, finde das Gleichgewicht.


Ich denke an den Moment oben auf dem Mt. Kenya, an das Rauschen im Körper, an das Licht, das plötzlich alles durchflutete. Jetzt höre ich das Rauschen der Wellen und das Flattern des Kites über mir.


Zwei Welten, die sich überlagern. Wieder einmal, wie so oft hier in Kenia.

Doch auf der emotionalen Ebene gar nicht so unterschiedlich.


Beides irgendwie Gipfelmomente - peak moments, wenn man Abraham Maslow fragen würde.

September 2025, Kalenderwoche 37: Einmal Gipfelmoment mit Gipfel.

Einmal ohne.


Aber zweimal unzweifelhaft dieser Zustand von gesteigerter Freude, Ruhe, Schönheit - und Staunen.


Und so wie das Kite gerade den Wind einfängt, fange ich diese Momente ein - wohl wissend, dass man weder Wind noch Glück wirklich festhalten kann.

Beides muss man ziehen lassen. Damit es wiederkommt.




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