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Mono no aware - jede Murmel zählt

  • Autorenbild: Fahrni Nicole
    Fahrni Nicole
  • 13. Aug.
  • 7 Min. Lesezeit
Durch die Frontscheibe sehe ich, wie ein Motorrad mit einem Turm aus Stroh langsam die Strasse entlangtuckert. Alles wackelt, aber irgendwie bleibt alles oben. Ich muss lachen - und merke gleichzeitig: Genau so fühlt sich mein Leben gerade an. Voll beladen, in Balance bleiben, weiterfahren.
Durch die Frontscheibe sehe ich, wie ein Motorrad mit einem Turm aus Stroh langsam die Strasse entlangtuckert. Alles wackelt, aber irgendwie bleibt alles oben. Ich muss lachen - und merke gleichzeitig: Genau so fühlt sich mein Leben gerade an. Voll beladen, in Balance bleiben, weiterfahren.

So kitschig es klingt, aber in letzter Zeit ist mir hier in Kenia die Flüchtigkeit des Lebens näher als sonst. Wahrscheinlich, weil es keinen Alltag gibt, der die Tage gleichschleift, der alles in uniforme Schubladen packt und durch die Repetition über die Endlichkeit hinwegtäuscht.


Hier hat jeder Tag ein anderes Gesicht - und genau deshalb rutscht er einem auch so schnell wieder durch die Finger.


Seit Mitte Mai hat sich mein Leben angefühlt wie ein Film, der in doppelter Geschwindigkeit abgespielt wird. Keine Wiederholungen, keine Routine, nur Szenenwechsel im Minutentakt. Die Staffeln sind kurz, die Cliffhanger echt, und das Abspannlied gibt's nicht - es läuft immer sofort die nächste Folge.


Erst waren meine meine Eltern da - zweieinhalb Wochen Game Drives, Wanderungen, Frühstück unter freiem Himmel und diese stille Freude, sie beim Staunen zu beobachten. Dann der Abschied in Mombasa: "Goodbye". Winken. Kloss im Hals.

Lorenz flog direkt weiter nach Laos, für drei Wochen. Ich zog für eine Woche an den Galu Beach - Kitesurfen, Sonne, Wind und Salzwasser.

Dann der Sprung zurück in die Schweiz - im wahrsten Sinne, denn zwei Wochen sind kaum genug, um Reisemüdigkeit, Freunde, Familie und die heiligen Pflichten des Berner Sommers unter einen Hut zu kriegen.


"Wie ist es so in Kenia? Was machst du da eigentlich?" werde ich immer wieder gefragt. Simple Fragen. Eigentlich. Und doch ringe ich jedes Mal nach einer Antwort. Weil hier nichts gleich bleibt. Keine Woche gleicht der anderen.


Manchmal bedeutet Alltag: mit dem Auto zwischen drei Southern White Rhinos hindurchzuckeln.

Manchmal: drei Stunden nach Nairobi fahren, um mein Visum zu verlängern, und drei Stunden wieder zurück.

Manchmal: Bewerbungen schreiben und Vorstellungsgespräche führen, während draussen ein Hyrax klingt, als hätte er sich den kleinen Zeh gestossen.

Oder auf dem Markt den Preis für fünf Mangos verhandeln - und sich wie die Queen of Negotiation fühlen, wenn am Ende 50 Rappen drinliegen.

Manchmal ist Alltag auch einfach Wäsche waschen, Blogartikel tippen, Fotos sortieren. Oder kreative Lösungen finden, wenn am selben Tag der Strom weg ist und die WC-Spülung bockt.


Und trotzdem, egal ob Löwen im Quartier (wirklich!), Mangos auf dem Markt oder Stromausfall im Haus - ich bin immer noch die gleiche, die sich beim Zähneputzen regelmässig im Zahnpastaschaum verliert und unheilbar zu viele hübsche Notizbücher kauft.


Also, wie ist es in Kenia?

Eigentlich ganz normal. Und gleichzeitig komplett anders.

Und seit Mai läuft das Leben hier im Vorspulmodus - und keiner drückt auf Stopp.


Mit Besuch wurde das Tempo noch mal hochgeschraubt: erst Ruth und Peter, dann Christina, dann Vera und Pädi. Kaum war ein Koffer ausgepackt, wurde schon wieder einer zugezippt. Die Tage reihten sich wie bunte Perlen auf eine Schnur - und jedes Mal, wenn ich kurz eine bewundern wollte, flutschte schon die nächste nach. Die unsortierten Fotos stapeln sich auf meiner Festplatte wie Mahnmale fehlender Reflexionszeit. Blick zurück? Keine Chance. Der Fokus liegt vorne. Immer weiter.


Zurück in Kenia (ich aus der Schweiz, Lorenz aus Laos) treffen wir uns in Nairobi, fahren heim nach Nanyuki. Kurz riecht das Leben nach "normalem" Alltag: Wäsche, Einkauf, CrossFit, DinnerDates, ein paar To-Dos. Ganze anderthalb Wochen lang. Dann kommt Christina, Lorenz' Mutter, und der Alltag macht wieder Platz für diese Sorte Tage, die eigentlich in "Once-in-a-Lifetime"-Kästchen gehören.


Das erste gemeinsame Abendessen mit Besuch ist immer besonders. Alle reden gleichzeitig, Scooby wedelt neben dem Tisch. Sechs Monate Leben werden in ein paar Minuten Gesprächszeit gequetscht.


Am nächsten Tag gleich Spinners and Weavers, wo Frauen Teppiche aus Schafswolle knüpfen. Abends "The Nook Café & Bar". Dann Ol Pejeta - zum dritten Mal für mich. Doch dieser Park ist wie eine Serie, die sich ständig neue Staffeln ausdenkt. Dieses Mal: eine Löwenfamilie, die sich im Gras versteckt. Der Ranger winkte, wir sollten einfach "da durch" fahren. Ich sah keinen Weg. Nur hüfthohes Gras. Aber gut, wenn er das sagt... Das Auto schwamm mehr, als es fuhr, und am Ende hing die halbe Savanne unter dem Chassis. Zum Glück keine Schäden. Dafür Löwen. Deal.


Perle aufgefädelt.

Weiter.


Wie in einer Filmschnitt-Montage: Am nächsten Tag eine Wanderung am Mt. Kenya, 3'800 Meter Höhe. Luft dünn. Kein Gipfelblick, dafür Pflanzen, die aussehen, als hätten sie ein Kostümfest.

Dann eine Geburtstagsüberraschungsparty für Lorenz - erst Stirnrunzeln, dann Erkennen, dann ein breites Grinsen. Überraschung geglückt.

Nächster Schnitt: Wochenmarkt, lokales Restaurant, Autoservice.

Dann die Aberdares. Nebel, der sich wie eine Decke über den Wald legt. Elefanten, die plötzlich aus dem Dickicht treten. Eine Hyäne, die aus dem Unterholz glotzt. Ein Riesenwaldschwein, das vor Selbstverständlichkeit nur so strotzt, während wir merken, dass wir selbst die Säugetiere dieses Landes noch nicht alle im Repertoire haben.

Am Tag darauf Kaffeeplantage und -rösterei: erst zarte Blätter am Strauch, dann Bohnen in der Hand, dann das Schnaufen der Maschine und dieser himmlische Duft, der in die Kleidung kriecht. Degustation inklusive. Medium Roast AA. Falls jemand fragt.



Tags darauf spazieren wir am Lake Elementaita. Hübsch. Still. Fast ein bisschen zu brav. Die grosse Flamingo-Zeit ist vorbei, nur ein paar Nachzügler stehen im Wasser wie versäumte Partygäste.

Am Lake Naivasha dagegen: Hippos, die aussehen wie Steine mit Augen. Fischadler im Sturzflug wie übermotivierte Pfeile. Kormorane, die posieren, als wüssten sie genau, dass sie mit diesen leuchtend türkisblauen Augen alles gewinnen würden. Alles vom Boot aus, mit Sonne im Gesicht und Spritzwasser auf den Armen.




Weiter nach Nairobi. Zum ersten Mal Self-Drive. Wer schon mal hier gefahren ist, weiss, was das heisst. Nach sechs Monaten auf Kenias Strassen fühlen wir uns bereit für die grosse, wilde Stadt - oder zumindest für einen Versuch.


In Nairobi besuchen wir zum zweiten Mal Steve und die Happy Star Academy - die Primarschule, die er im Mathare Slum aufgebaut hat. Mit leuchtenden Augen zeigt er uns neue Klassenzimmer, den Schulgarten, und erzählt von Plänen, die schon wieder grösser sind als der Platz, den er hat. Ein Erlebnis, das eigentlich eine Woche Verarbeitungszeit bräuchte. Aber hier: keine Zeit. Weiter.


Der Rhythmus bleibt: sehen - staunen - weiter.


Auf der Zugfahrt nach Mombasa finde ich ein paar Minuten, um die letzten Tage im Kopf zu sortieren. Draussen Baobabs. Dann Buschfeuer im Tsavo - die Erde glüht links und rechts, wir fahren mitten durch. Eindrücklich.


Mombasa riecht nach Salz, Diesel und Gewürzen. Wir steigen aus, und die feuchte Hitze umarmt uns wie ein zu dicker Pulli. Eine Nacht bleiben wir. Am nächsten Morgen: Akamba Woodcraft Cooperative. Dutzende Schnitzer nebeneinander, manche mit jahrzehntelanger Routine in den Händen, andere noch jung und konzentriert. Holzstaub in der Luft. Überall stapeln sich Giraffen, Löwen, Masken - alles aus Holz, filigran, präzis, jede Figur mit einer kleinen Geschichte im Bauch.


Weiter nach Watamu. Ein Postkarten-Ort: türkisblaues Wasser (okay, mit einem Hauch Schlick), weicher Sand, Fischerboote wie Nussschalen auf den Wellen. Soundtrack: Rufe der Beachboys, die Schmuck, Kokosnüsse oder Touren zu den 7 Islands anbieten (wer Nein-Sagen trainieren will - Watamu ist dein Bootcamp).


Abends italienische Restaurants, verblüffend authentische Pizza, Affogato (Affogato, Affogato 🎵 ) Mmmh.


Dann eine Kanutour durch die Mangroven. Das Wasser still, nur das sanfte Klatschen der Wellen am Boot. Die Luft salzig. Alles in Gold getaucht vom Sonnenuntergang. Für einen Moment wirkt es, als würde die Zeit hier festhängen, wie eine Uhr, deren Zeiger kurz aussetzen.


Aber irgendwo in mir höre ich es trotzdem ticken. Noch vier Monate. Und egal, wie sehr ich mich bemühe, sie zu strecken - das Staffelfinale kommt.


Szenenwechsel.


Von goldgetränkter Mangroven-Stille zu Neonlicht und Verkehrslärm.


Nairobi. Fünfzehn Stockwerke über der Stadt, die unter uns flimmert.

Unten hupende Autos, oben glitzern Weingläser. Und irgendwo dazwischen sitzen wir mit Christina, Vera und Pädi - als wäre es das Natürlichste der Welt, dass genau diese Runde an genau diesem Abend an genau diesem Ort zusammenkommt. Ein einziger Schnitt, in dem zwei Handlungsstränge kurz übereinanderliegen, bevor sie wieder auseinanderlaufen.


Nairobi unter uns, Geschichten zwischen uns
Nairobi unter uns, Geschichten zwischen uns

Noch am gleichen Abend verabschieden wir Christina Richtung Flughafen. Eine Umarmung, ein letzter Blick - zu kurz für all das, was wir gemeinsam erlebt haben. Dann ist sie weg und es fühlt sich an wie ein Kapitel, das mitten im Satz aufhört.


Am nächsten Tag sitzen Vera und Pädi auf der Rückbank, wir steuern hinaus aus Nairobi. Langsam löst sich die Strasse aus dem Gewusel der Stadt. Fruchtstände. Werkstätten, in denen Metall auf Metall schlägt. Ziegenherden. Die Luft wird kühler. Am Horizont die dunklen Flanken des Mount Kenya, wolkenverhüllt, als wolle er das Geheimnis des Moments für sich behalten.


Während ich fahre, läuft das Christina-Kapitel noch nach - sanft, wie ein Film im Kopf. Gleichzeitig zieht schon die nächste Geschichte an mir. Vorfreude auf eine neue Folge, die keinen Vorspann kennt.

Bei Netflix gibt es diesen kleinen Countdown - ein paar Sekunden, um Luft zu holen, bevor es weitergeht. Diese Sekunden gibt es hier gerade nicht. Keine Pause. Kein Schwarzbild. Nur fliegende Wechsel.


Manchmal fühlt es sich an, als wollte ich mit beiden Händen all die bunten Murmeln greifen, die das Leben mir entgegenwirft. Die Hände längst voll, und doch strecke ich mich nach weiteren aus. Jede funkelt anders, jede ist kostbar. Während ich nach der nächsten hasche, spüre ich, wie mir andere zwischen den Fingern davonrollen. Wie viele kann ich festhalten?



Heute ist Dienstag, der 12. August. Das Kapitel "Vera + Pädi" ist gestern zu Ende gegangen.

Schwupps - vorbei.


Wenn sich Erlebnisse überschlagen, gewinnt der Fluss des Lebens an Tempo - und gleichzeitig an Tiefe.


Vorgestern noch Auge in Auge mit einem Hippo.

Gestern Kilometer fressen auf löchrigen Strassen.

Heute allein im Garten, mit einer Handvoll Murmeln.


Ich lasse sie in meiner Hand ruhen, betrachte jede, die anders glänzt. Halte sie fest, bevor sie weiterrollen. Und frage mich, wie ich sie ordnen soll.


Mono no aware - dieses bittersüsse Bewusstsein der Vergänglichkeit.

Ein zarter Schleier aus Wehmut und Schönheit liegt über diesem Ort, über diesem Jahr, das so intensiv ist, dass es gleichzeitig durch die Finger rinnt und sich ins Herz brennt.


Noch vier Monate.


Und viermal Besuch.

Danach: sechs Wochen Tsavo. Allein. Mit Elefanten.

Wie irre schön das klingt.

Und gleichzeitig: Lorenz und ich - wieder getrennt.


Wenn ich zurück bin, ist Ende November. Dann läuft definitiv der letzte Schnitt.




Aber vorher gibt's bestimmt noch ein paar Geschichten...









1 Kommentar

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Gast
13. Aug.
Mit 5 von 5 Sternen bewertet.

Liebe Nicä

Mit dir konnte ich unsere gemeinsame Zeit nochmals durchgehen und weiter verdauen. Deine Gedanken dazu sind so tiefgründig, aber auch witzig. Danke!

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