Happy Star Academy - ein Hoffnungsschimmer unter den Wellblechdächern von Mathare
- Fahrni Nicole
- 29. März
- 6 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 30. März

«Na mimi ! Na mimi ! » Plötzlich stehen rund fünfzig Kinder um mich herum. Sie drängen sich dicht an dicht, recken ihre kleinen Hände in die Luft, die Augen aufgerissen – wach, neugierig, voller Hoffnung. Ein Strahlen im Gesicht. Ich stehe mittendrin und versuche, möglichst keine Hand auszulassen. Eben hatte eines der Kinder etwas Tolles gemacht – was genau, weiss ich nicht mehr. Ich habe ihm ein High-Five gegeben. Und damit ein Chaos ausgelöst. Jetzt recken sie alle die Hände in die Luft. Ein High-Five – eine kleine, unscheinbare Geste, aber irgendwie mächtig. Eine kurze Berührung, eine Verbindung, ein winziger Moment, der sich anfühlt wie ein Funken Licht. Und hier, an diesem Ort, wo Licht so dringend gebraucht wird wie kaum irgendwo sonst, sorgt ein simples High-Five für pures Glück.
Ich stehe in der Happy Star Academy, einer Primarschule mitten im Mathare-Slum im Osten von Nairobi. 500 Kinder besuchen sie – Tendenz steigend. Sie stehen Schlange, um eine Sekunde Aufmerksamkeit, einen Hauch von Anerkennung, vielleicht einfach nur ein bisschen Spass zu ergattern. Ich verteile High-Fives im Akkord, will kein Kind übersehen, vergesse für einen kurzen Moment, wo ich eigentlich bin. Ziel erreicht für die Happy Star – sie ist eine Oase der Hoffnung inmitten der Armut, ein sicherer Hafen in einer knallharten Lebensrealität.
Mathare – eine Welt für sich
Mathare ist der zweitgrösste Slum Nairobis. Rund 1.2 Millionen Menschen leben hier auf engstem Raum und kämpfen täglich ums Überleben. Mit dem Uber-Taxi brauchten wir knapp 30 Minuten von unserem 4-Sterne-Hotel zur Tankstelle am östlichen Rand von Mathare. Dort wartete Steve auf uns.

Stephen Odiambo Arodi – kurz Steve – ist das Gesicht hinter der Happy Star Academy. Er ist selber in Mathare aufgewachsen, lebte sechs Jahre auf der Strasse, seine Eltern versunken im Alkoholmissbrauch, seine Geschwister gefangen in Drogen und Prostitution. Der Slum wollte ihn nicht loslassen, doch er schaffte es – dank eines Schulleiters und eines Priesters. Heute hat er einen Universitätsabschluss in Psychologie. Aber anstatt wegzubleiben, kehrte er zurück. Weil er wusste: Bildung ist der einzige Weg aus diesem Kreislauf.
500 Kinder lernen mittlerweile an der Happy Star Academy. Doch Steve hat grössere Pläne und will die Schule weiter ausbauen, um so vielen Kindern wie möglich die Chance auf Bildung zu geben.
Wenn der Staat niederreisst, baut Steve auf
Zuerst gehen wir zum Mathare-Fluss, der direkt an die Schule grenzt. Ein beissender Geruch steigt uns in die Nase. Ein Haufen junger Menschen fischt mit langen Holzstecken Plastiktüten und undefinierbaren Unrat aus dem Wasser. Ihre Bewegungen sind mechanisch, routiniert, als würden sie diesen endlosen Kampf gegen den Dreck schon viel zu lange führen. Ein paar Schritte weiter, am Ufer, hockt eine Frau und schrubbt ihre Wäsche. Weisse Schaumblasen treiben flussabwärts – ein absurdes Bild inmitten des dunklen, stinkenden Wassers. Beidseits des Flusses gibt es erstaunlich viel Platz. Steve erklärt uns sogleich warum.
Nach den verheerenden Überschwemmungen im Frühling 2024 beschloss die Regierung, alle Gebäude innerhalb eines 30-Meter-Radius zum Fluss abzureissen. Offiziell eine Hochwasserschutzmassnahme. In der Umsetzung war es eine gnadenlose Räumung. Bulldozer, die Mauern und Existenzen gleichermassen niederwalzten. Ohne rechtzeitige Warnung. Ohne Rücksicht. Menschen wurden verletzt, weil sie nicht schnell genug fliehen konnten.
Die Happy Star Academy hatte Glück – sie liegt nur knapp ausserhalb dieser Zone. Jetzt ist sie die letzte Häuserreihe vor dem Fluss, eine Art letzte Bastion vor der Leere – und Leere ist in Mathare ein seltenes Gut. Wo einst Hütten standen, klafft jetzt eine Lücke, wie ein fehlender Zahn in einem Gebiss.
Doch Steve weiss mit Veränderung umzugehen. Wo andere nur plattgewalzte Hütten sahen, pflanzte er Hoffnung. Wortwörtlich. Auf dem freigeräumten Land hat er einen Schulgarten angelegt und eine Baumzucht aufgebaut. Er schafft damit Arbeitsplätze, stabilisiert das Flussufer und sorgt für einen kleinen Fleck grüner Hoffnung. So tickt Steve. Mit unermüdlichem Willen baut er Schritt für Schritt eine lebenswertere Zukunft, an einem Ort, an dem es eigentlich keine geben sollte.
Ein Spaziergang durch Mathare
Als wir mit Steve zu Fuss durch Mathare laufen, sprudeln Ideen und Geschichten aus ihm heraus. Dazwischen kurze Pausen, weil er so viele Menschen beim Vorbeigehen kennt. Hier ein Lächeln, dort eine Umarmung, ein paar aufmunternde Worte. Wer mit ihm durch Mathare läuft, vergisst fast, wie hart das Leben hier ist.
Aber es ist hart. Knallhart und gnadenlos. Es fehlt an fast allem – sauberem Wasser, sanitärer Grundversorgung, Sicherheit. Gewalt ist allgegenwärtig und schon die Kleinsten sind ihr ausgesetzt. Doch die Menschen in Mathare trotzen der Härte mit unermüdlichem Treiben. In den schmalen Gassen herrscht geschäftiges Gewimmel - überall Stimmengewirr, der Duft von gebratenem Mais und der russige Geruch offener Feuerstellen. Überall bunte Verkaufsstände mit Bananen, Reis oder Zuckerrohr. Dahinter winzige Wellblechhütten, dicht aneinandergedrängt wie Sardinen in der Dose. In Mathare gibt es keinen ungenutzten Zentimeter.
Die Happy Star Academy
Dann betreten wir das blaue Tor der Happy Star Academy. Die Energie hier ist anders. Leben. Hoffnung. Aufbruch.
Wir besuchen jedes Klassenzimmer, beginnend mit den Jüngsten. Mal abgesehen von der Grösse unterscheidet sich ein Klassenzimmer gar nicht so sehr von einem in der Schweiz: Vorne eine Wandtafel, wo sorgfältig mit Kreide die Buchstaben des Alphabets aufgeschrieben sind, an den Wänden hängen Zeichnungen und Poster von Kindern – über Tiere, Pflanzen und Böden -, daneben Schilder mit Klassenregeln und Stundenplänen. Jedes Kind hat einen Bleistift und ein Schreibheft. Zwischen 50 und 70 Kinder in einem Raum. Ein bis zwei Lehrpersonen.
Erst in den Pausen wird uns die Zahl der Schulkinder so richtig bewusst. Das dreistöckige, improvisierte Betongebäude scheint zu beben unter dem wilden Getummel von Hunderten kleiner Füsse. Das schmale Treppenhaus ist randvoll mit lachenden, rufenden, herumstapfenden Kindern. Sie strömen aus den Klassenzimmern, füllen jeden Winkel, drängen sich durch die engen Flure. Ich drücke mich an die Wand, um Platz zu machen für die Kinder. Ich muss ein paarmal leer schlucken. Habe ich mich als Lehrerin in der Schweiz nicht auch manchmal über Platzmangel beklagt? Hier wirkt das plötzlich absurd.
Doch kaum endet die Pause, stoppt der Rummel. Als wir in die Klassenzimmer eintreten, sind die Kinder mucksmäusen still. Alle Augen sind auf Steve gerichtet. Und auf uns – die zwei «Wasungus». Dann schwappt uns ein tosender Applaus entgegen, als Steve den Kindern berichtet, was es dank uns heute zum Mittagessen gibt. Wir freuen uns über die strahlenden Gesichter, haben gleichzeitig jedoch auch ein beklemmendes Gefühl, weil wir dafür beklatscht werden. Nicht wir sind die Helden hier, die es zu beklatschen gilt, sondern all die guten Seelen, die hier tagtäglich ihr Bestes geben, um diesen 500 Kindern eine Zukunft zu bauen.
200 Franken hatten Lorenz und ich gespendet. Eine Summe, die sich in der Schweiz nach einem netten Restaurantbesuch anfühlt. Hier bedeutet sie: 550 warme Mahlzeiten. Und nicht irgendein Essen – ein Festessen, wie es diese Kinder kaum je zu Gesicht kriegen. Reis, Kartoffeln, Weisskabis, Rindfleisch. Normalerweise gibt es nur Bohnen und Reis. Fleisch? Ein Luxus, den sich in Mathare sonst niemand leisten kann.
Früher war die Schule nur Montag bis Freitag geöffnet. Doch als Steve merkte, dass montags viele Kinder in Ohnmacht fielen, schwach und ausgehungert, traf er eine Entscheidung. Jetzt sind die Tore der Schule auch samstags offen – und Kinder können Essen mit nach Hause nehmen. Denn wer am Wochenende nichts isst, kann montags nicht lernen.
Wir gehen von Klassenzimmer zu Klassenzimmer, stellen uns vor, lachen und singen mit den Kindern. Dazwischen Gespräche mit Steve. Geschichten, die weh tun. Ungerechtigkeiten, die wütend machen. Dann wieder Klassenzimmer. Wieder zehn Minuten Freude, Hoffnung. Lachen, Singen, Tanzen. Eine Achterbahn der Gefühle.
Am Mittag helfen wir beim Essenverteilen. Ich bin froh um die Ablenkung, denn sonst wären mir wohl die Tränen gekommen. 72 Kindergartenkinder essen mit beiden Händen, schaufeln jeden Bissen in ihre Mäuler, als ginge es um ihr Leben. Vielleicht tut es das. Die Stille im Raum ist ungewöhnlich – keine «Schmäderfräsigkeit», kein Gemäkel. Jeder Löffel ist kostbar.
Ich blicke in die strahlenden Gesichter und frage mich, wie die Welt so grausam und so wunderschön zugleich sein kann.
Wenn der Weltschmerz lähmt
Ich kenne dieses Gefühl. Das ohnmächtige Ziehen in der Brust, wenn man Nachrichten liest. Ein Flüchtlingsboot versinkt im Mittelmeer, Tuvalu droht durch den steigenden Meeresspiegel zu versinken, der chinesische Flussdelfin ist ausgestorben und in Kalifornien wütet ein heftiger Waldbrand. Du recycelst brav deine PET-Flaschen, wäschst deine Kleider mit eco-friendly Waschmittel, installierst eine Solaranlage auf dem Hausdach – und liest am nächsten Tag, dass die USA wieder aus dem Klimaabkommen ausgestiegen sind. Manchmal fühlt man sich wie eine kleine Erbse, die sowieso nichts bewirken kann.
Doch dann trifft man Steve. Er rettet nicht die Welt. Aber für 500 Kinder ist Happy Star die Welt. Für sie bedeutet die Schule den Unterschied zwischen einem Leben in Armut, mit Drogen und Gewalt – oder einem Leben mit Hoffnung, Bildung und einer Perspektive.
14 Franken. So viel kostet es, einem Kind drei Monate Schule zu ermöglichen – inklusive Uniform, Lernmaterial und Mahlzeiten. Nicht alle Familien in Mathare können das bezahlen. Steve springt teilweise persönlich ein. Arbeitet nebenbei als Psychologe und spart jeden Cent für die Happy Star.

Wenn auch du etwas geben möchtest, lass es mich wissen. Jeder Beitrag geht direkt an Steve. Auch Schulmaterialien sind gefragt – Papier, Bleistifte, Farbstifte und Notizhefte. Empfehlen kann ich ebenfalls den Dokumentarfilm «Little Big Steve», den du hier anschauen kannst.




























































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