Staunen und Stirnrunzeln - Notizen aus der Wildnis
- Fahrni Nicole
- 30. Juni
- 7 Min. Lesezeit

Die Elefanten laufen andächtig über die Strasse, als gäbe es keine Eile auf dieser Welt.
Ihre Schritte sind schwer, und doch anmutig.
Wie in Zeitlupe.
Als würde jeder Tritt abgewogen, bevor er gesetzt wird.
Wir stehen still. Niemand spricht.
Wunderschön.
Dann: Motoren heulen auf. Staub. Stimmen. Ferngläser. Objektive. Aufgeregtes Flüstern. Ein Selfiestick. Zehn Safarijeeps schieben sich an uns vorbei. Alle wollen ganz nach vorne. Ganz nah an die sanften Riesen. Es klickt, es blitzt, jemand ruft "There!" - und zeigt in die Richtung, in die sowieso schon alle schauen.
Ich staune.
Über die Elefanten.
Aber ebenso über uns Menschen.
Über unsere Gier, das Einzigartige für unsere Alben einzufangen. Über unsere seltsame Art, das Erhabene zum Spektakel zu machen - mit Zoomlinsen, die länger sind als mein Arm. Mit iPhones. Mit #nofilter.
Ist das echte Ehrfurcht - oder bloss ein besonders gutes Instagram-Motiv?
Vermutlich beides.
Ich fühle Freude.
Und Scham.
Staunen.
Und Unbehagen.
Denn ich bin mittendrin. Auch meine Kamera ist gezückt. Auch bei mir gibt's ne neue Instagram-Story. Teil der Szene - und gefangen in ihrer Gleichzeitigkeit.
Diese Gleichzeitigkeit widersprüchlicher Emotionen - sie begleitet mich oft hier in Kenia.
Besonders unterwegs.
Ein bisschen Verzauberung, ein Hauch Irritation.
Das Gefühl, zugleich Teil und Aussenseiterin zu sein.
Wie in jener Szene bei den Elefanten. Ein Moment zum Staunen - und zum Stirnrunzeln.
Ich stehe mitten in dieser scheinbar wilden Landschaft, für die ich ähnlich viel Eintritt bezahlt habe wie für den Europapark. Willkommen im Vergnügungspark Wildnis.
Mit unserem Jeep fahren wir an Gnus, Zebras und Elefanten vorbei - und kurz darauf an einer Gruppe Kinder, die "Maji! Maji!" rufen. Wasser.
Ich sage nichts.
Ein bisschen, weil ich keine Antwort habe.
Ein bisschen, weil es unangenehm ist.
Ein bisschen, weil ich müde bin vom Game Drive.
Und dann hebe ich wieder die Kamera.
Da hinten steht eine Giraffe. Das Licht fällt gerade so schön auf ihren Rücken.
Safari in Kenia ist eindrücklich. Spektakulär.
Aber das flaue Gefühl im Magen ist ebenso real.
Und ich weiss auch nach fünf Monaten Kenia noch nicht recht, was ich damit anfangen soll.
Vielleicht muss ich das auch gar nicht. Vielleicht ist Erleben per se widersprüchlich.
Weil das Staunen ebenso zum Unbehagen gehört. Das Verzaubernde ebenso zum Komischen.
Vielleicht ist genau das der Punkt.
Der Mai war aber nicht nur Ambiguität.
Der Mai war Erleben. Sehen. Und manches davon eindeutig grossartig.
Zum Beispiel, dass meine Eltern zu Besuch kamen.
Es war ein eindeutig grossartiger Moment, als ich die beiden in Nairobi aus dem Taxi steigen sah. Nach langer Zeit und weiter Reise stehen sie tatsächlich mit eigenen Füssen im Staub dieser pulsierenden Stadt. In meiner Zwischenwelt. Und ich darf ihnen einen kleinen Ausschnitt von diesem Abenteuer zeigen.
Spätabends stossen wir in der Hotelbar mit einem Tusker-Bier an - auf die gemeinsame Zeit, auf das Hiersein, auf das "wer hätte das gedacht". Ich denke: surreal. Und ziemlich cool.
Am nächsten Tag sitzen sie in Nanyuki auf unserer Schaukel. In unserem Garten. Begegnen unserem Hund, der sie schwanzwedelnd begrüsst, als würde er sie seit Jahren kennen.
Ich sehe, wie sie staunen - über Dinge, die mir mittlerweile vertraut sind. Und ich merke: Es tut gut, mit ihnen zu schauen, weil es mich zwingt, selbst wieder genauer hinzusehen. Zusammen mit ihnen entdecke ich das Bekannte neu - und stolpere über Unbekanntes.
Ich zeige, was ich schon kenne - und merke zugleich, dass ich vieles selbst noch gar nicht wirklich verstanden habe.
Wir schlendern durch den üppig grünen Ngare-Ndare-Wald, und lauschen den Ausführungen unseres schwer bewaffneten Rangers - weil dieser Bilderbuch-Dschungel nun mal kein Streichelzoo ist.
Am nächsten Tag ruckeln wir über die Staubpisten von Ol Pejeta. Faszination und kleiner Adrenalinschub zugleich - besonders, als wir wenige Meter neben einem Koloss von Nashorn zum Stehen kommen. Ein kleiner SUV hat weniger Kilos als dieser Panzer auf Beinen, schiesst es mir durch den Kopf.
Und kurz darauf: Löwen. Direkt neben der Strasse. All-You-Can-Eat-Buffet. Sie zerlegen einen frisch gerissenen Büffel. Woah.
Bei all den romantischen "Der König der Löwen"-Bildern, die uns im Kopf rumschwirren, vergessen wir gerne: Katzen sind nicht nur Kuschelmonster. Klar, sie schnurren und schmiegen sich an - aber wehe, sie haben Hunger! Dann werden sie zu eiskalten Jägern. Hier halt einfach in XXL und mit Büffel statt Maus.
Nach ein paar Tagen rund um Nanyuki, packen auch Lorenz und ich unsere Koffer - und schon sitzen wir zu viert im Auto, unterwegs nach Nakuru.
Die Landschaft rauscht vorbei: Fruchtstände, Zebras, Akazien, sattgrüne Hügel, kleine Holzhütten mit dem grossen grünen "Safaricom"-Logo.
Fenster runter, Wind im Gesicht, gute Gespräche - alles fühlt sich leicht und frei an.
Und dann: zack, verfahren.
Blind dem Navi gefolgt, stehen wir plötzlich auf der falschen Seite des Zauns. Nur ein paar hundert Meter Luftlinie bis zur Lodge - aber kein Durchkommen.
Kein Gate. Kein Ranger. Stattdessen: löchrige Pisten, staubige Dornbüsche - und eine ironisch blinkende Google-Maps-Punktwolke, die uns schnippisch sagt: "Nach 200 Metern befindet sich ihr Ziel auf der linken Seite."
Wir müssen umdrehen. Alles zurück und dann durchs offizielle Gate. Mühsam - aber wir nehmen's mit Humor.
Während wir wenden, zurückfahren und für unsere Ehrenrunde ansetzen, denke ich einmal mehr über die Zäune nach, die sich wie stille Linien durch Kenias Landschaft ziehen. Schutz für die einen, Barriere für die anderen.
Eine Linie im Staub, die festlegt, wer durchkommt. Und wer draussen bleibt.
Dieses Mal hat's uns erwischt.
Zwei Stunden später sind wir fast am selben Ort - jetzt allerdings mit Ticket und von der richtigen Seite. Ein kleiner Umweg, der zum Nachdenken anregte.
Wir geniessen die spektakuläre Aussicht von der Lodge auf den Lake Nakuru. Der See ist ein Paradies für Wasservögel - Pelikane in rauen Mengen. Kormorane. Fischadler.
Nur Flamingos fehlen. Früher kamen sie zu Tausenden, färbten den See in zartes Rosa. Heute: nichts. Der steigende Wasserpegel (Folge des Klimawandels) hat den pH-Wert verändert, die Algen verschwinden lassen. Und mit ihnen: die Flamingos.
Ein paar Tage später sehen wir dann doch noch welche - am Lake Elementaita, auf dem Weg nach Naivasha. Ein kurzer Stopp, ein paar zartrosa Punkte im Wasser. Schön - aber auch hier: spürbar weniger als einst.
Weiter zum Crater Lake - dem kleinen, unbekannten Bruder des Lake Naivasha. Lorenz und ich waren im März zufällig hier gelandet und sofort verliebt. Jetzt kehren wir zurück, mit meinen Eltern.
Für uns: einer der magischsten Orte in Kenia.
Das Camp liegt direkt am See, umringt vom grünen Kraterrand - Naturkino in 360°.
Und weil Nebensaison ist, sind wir die einzigen Gäste.
Meine Eltern bekommen die Honeymoon-Suite.
Morgens gibt's einen Brunch mitten im Busch.
Weiss gedeckter Tisch.
Blick auf den See.
Affen turnen in den Bäumen.
Ein Fischadler ruft von oben.
Wow.
Weil niemand sonst da ist, haben auch die Ranger nichts anderes zu tun.
Jeder Ausflug wird zur privaten Spezialführung.
Wir absolvieren das komplette Programm: Walking Safari, Crater Rim Hike, Night Game Drive - mit Enthusiasmus auf beiden Seiten.
Wir spazieren durch eine Zebraherde, als wären wir selbst Teil davon. Kurz darauf stehen wir zehn Meter von einer Giraffe entfernt, die in aller Ruhe an einer Akazie zupft. Ab und zu schaut sie zu uns herunter - neugierig, aber völlig unbeeindruckt.
Nachts folgt ein Game Drive zum Ufer vom Lake Naivasha. Taschenlampen, Geraschel im Gebüsch. Augen im Scheinwerferlicht: Hyänen, Hippos, Eulen, Warzenschweine, Füchse, Hasen, Dikdiks - und: afrikanische Kängurus. Kein Witz! Die Springhasen hier sehen aus wie Mini-Kängurus, und wenn sie im Dunkeln davonhüpfen, glaubt man für einen Moment, man sei versehentlich in Australien gelandet.
Nach dem Crater Lake beginnt unsere "offizielle Safari". Direkt beim Camp werden wir vom Safari-Jeep abgeholt. Es geht via Nairobi nach Amboseli - sechs Stunden Fahrt, die sich erstaunlich kurz anfühlen. Denn in Kenia ist das Autofenster ein Bildschirm, auf dem ununterbrochen das Leben spielt: Stände mit bunten Tüchern und Früchten, Motorräder mit allem möglichen beladen, Ziegen - und Rinderherden, Busse mit Bibelversen auf der Heckscheibe. Man kann gar nicht weggucken.
Als wir am späteren Nachmittag in der Amboseli Sopa Lodge ankommen, ist der grosse Star noch nicht zu sehen. Der Kilimanjaro versteckt sich hinter einer dichten Wolkendecke.
Doch dann, auf dem Weg zum Abendessen - als hätte jemand den Vorhang des Himmels zur Seite gezogen: der schneebedeckte Gipfel!
Still.
Majestätisch.
Er scheint zu schweben.
Und erst jetzt begreifen wir, wie enorm hoch dieser Vulkan wirklich ist (5'895 m.ü.M.).
Ein Bilderbuchvulkan, der sich 4'750 Meter über die weite Ebene von Amboseli erhebt.
Mega eindrücklich!
Zum Vergleich: Der Höhenunterschied zwischen dem Matterhorn und Zermatt beträgt "nur" 2'870 m.
Amboseli ist wie eine Bühne - und manchmal meint man, sie sei nur für dich gebaut. Manchmal sind da zehn Jeeps und ein einzelner Elefant.
Aber manchmal auch: niemand. Nur du, eine Akazie, ein paar Hippos.
Und dieser gigantische Berg, der über allem wacht.
Der Tag wird zur Entdeckungsreise. Wir cruisen durch die weiten Landschaften - mit abwechselnd gezückter Kamera und Fernglas.
Manchmal braucht es Geduld.
Dann plötzlich: Hektik.
Jemand hat eine Herde Gnus gespottet.
Die Sonne sinkt, das Licht wird weicher.
Und plötzlich spüren wir: Der Abschied naht.
Viel zu schnell ist das Kapitel "Amboseli" vorbei.

Das Safari-Auto bringt uns noch bis zur Bahnstation in Emali. Von dort nehmen wir den Madaraka-Express nach Mombasa - eine Zugfahrt in eine ganz andere Welt.
Mombasa ist ein Knall.
Hitze, Gewusel, hupende Tuk-Tuks, leuchtende Stoffe, fremde Gerüche.
Wie ein Radio auf voller Lautstärke, mit Wackelkontakt.
Faszinierend, aber auch fordernd. Reiz und Reizüberflutung. Lebensfreude und Erschöpfung. Ich kann nicht alles fassen - und will trotzdem nichts verpassen.
Für die letzten paar Tage gönnen wir uns einen ruhigen Ausklang an der Küste: Diani Beach. Palmen, türkisblaues Wasser, Sand zwischen den Zehen, Kokosnuss frisch von der Palme.
Wir lassen Revue passieren. All die Eindrücke, Erlebnisse, Gespräche. Und können es kaum glauben, wie schnell die drei Wochen vergangen sind.
Dann heisst es Abschied nehmen: Meine Eltern fliegen zurück in die Schweiz. Lorenz reist weiter nach Laos.
Und ich bleibe.
Nach drei Wochen Familienzeit brauche ich ein, zwei Tage, um mich ans Alleinsein zu gewöhnen.
Ich bin leicht angespannt - nicht nur, weil ich jetzt solo unterwegs bin, sondern auch, weil ich etwas Neues ausprobieren will. In Galu Beach habe ich mich für einen Kitesurfing-Einsteigerkurs angemeldet.
Zum Glück weicht die Nervosität schnell der Begeisterung.
Auch wenn die ersten Versuche ganz schön fordernd sind.
Ich kämpfe gegen den Drachen und die Wellen.
Ich falle, fluche, und schlucke Salzwasser wie Espresso.
Aber: Ich lache. Ich lebe.
Langsam komme ich ins Gleiten. Und plötzlich - mitten im Indischen Ozean - denke ich wieder an die Elefanten.
Weil es auch hier auftaucht. Dieses Gefühl zwischen Magie und Unbehagen.
Vielleicht ist genau das der Punkt.
Dass echtes Erleben sich nicht sortieren lässt.
Nicht in gut oder komisch.
Nicht in passt oder passt nicht.
Kein klares Gefühl.
Sondern ein ganzes Knäuel.
Man staunt - und will sich zugleich verstecken.
Man will bleiben - und fragt sich, was das eigentlich soll.
Und vielleicht ist das gar kein Widerspruch.
Vielleicht ist das einfach: Leben.





































































































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