Von treibenden Gedanken & selbst gesetzten Segeln
- Fahrni Nicole
- 11. Feb.
- 6 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 5. März

Der Milchschaum im Cappuccino ist ein kleines Kunstwerk und ich zögere, bevor ich einen Schluck davon trinke. Ich sitze im Dorman's Coffee Shop, das aufgeklappte Laptop neben meinem Cappuccino. Das geöffnete Word-Dokument ist noch leer und das weisse Blatt schaut mir auffordernd entgegen. Die letzte Woche hier in Nanyuki hat sich sonderbar "normal" angefühlt - schon fast alltäglich. Und ich meine nicht "normal" im Sinne von langweilig, aber halt so, als hätten unsere Gehirne das Konzept des täglichen Systemneustarts endlich aufgegeben. Kein morgendlicher "Wo-bin-ich?"-Bluescreen mehr. Tatsächlich hatte ich letzte Woche zum ersten Mal das Gefühl, dass wir so etwas wie eine Routine etabliert haben. Zumindest der Morgen läuft schon fast so, als sei es nie anders gewesen. Immer öfters hinkt der Wecker am Morgen meiner inneren Uhr hinterher und die gewünschte Wassertemperatur finde ich beim Duschen mittlerweile recht zügig - sehr zu meiner Erleichterung, denn anfangs stand ich meist länger neben als unter dem Wasserstrahl, fröstelnd oder vor Hitze fast versengend, während ich ungeduldig am Wasserhahn herumschraubte.
An meinen kleinen morgendlichen Prinzessinnenmoment habe ich mich natürlich schnell gewöhnt. Mein innerer Morgenmuffel und ich sind uns selten einig, aber in einem Punkt herrscht Konsens: Der Kaffee soll schon fast fertig sein, wenn ich aus der Dusche komme. Alles andere wäre ein Affront gegen mein zartes Nervenkostüm. Dieser Kaffee entscheidet darüber, ob mein innerer Igel sich wohlig ausrollt oder lieber weiter stachelig bleibt. Und wenn mich dieser himmlische Duft dann von der Dusche bis in die Küche leitet, denke ich: Ich bin ja sonst recht flexibel, aber diese Gewohnheit lässt sich mir jetzt beim besten Willen nicht mehr abgewöhnen. ;) Dann schwingt sich Lorenz auf sein Bike und radelt ins Büro, während ich oben auf dem Balkon die Yogamatte ausrolle, bevor ich wenig später das Haus ebenfalls verlasse und das Auto routiniert rückwärts aus der Hauseinfahrt und durch die zwei Eingangstore manövriere, als sei es das Normalste auf der Welt.

Anschliessend komme ich zum Beispiel hierher - in den Dorman's Coffee Shop in Nanyuki's Innenstadt, bestelle mir einen Cappuccino und erledige ein paar Dinge auf meinem Laptop, während ich die geschäftige Atmosphäre um mich herum geniesse. Auch das fühlt sich nicht mehr neu an, sondern vertraut. Besonders dann, wenn ich hier auf Leute treffe, die ich bereits kenne. Dann habe ich schon fast das Gefühl dazuzugehören und die ersten Tage, in denen alles neu, laut und irgendwie zu viel war, rücken weiter in den Hintergrund.
Die ersten Tage hier, an denen es stets hundert Dinge gab, die wir zum ersten Mal machten oder zum ersten Mal sahen. Zum Beispiel das erste Mal selbst hinter dem Steuer durch die Stadt brausen - ein Spektakel. Euphorie vermischt mit Unbehagen, während sich die Hände schweissnass und verkrampft um das Lenkrad klammerten. Nein, der Verkehr läuft hier nicht nur andersrum als zuhause, er funktioniert gänzlich verschieden. Tempolimiten? Gibt es hier zum Beispiel kaum. Stattdessen sorgen in den Quartieren Speedbumps und in der Innenstadt die vielen Verkehrsteilnehmenden dafür, dass beim Fahren "polepole" das Motto bleibt. Wenn du beidseits von Motorrädern flankiert wirst und du jederzeit damit rechnen musst, dass jemand vor dir über die Strasse läuft - und das müssen nicht zwingend Personen sein - bleibt dein Fuss automatisch in der Nähe des Bremspedals. Ich habe gelernt, dass hier weniger die Schilder und mehr das Bauchgefühl den Verkehr regeln. Bis auf die Einbahnstrassen - die musst du beachten! Was anfangs zu leichten Schweissausbrüchen und einer Wade aus Stahl führte, fühlt sich mittlerweile ziemlich relaxed an. Anstelle einer verkrampften Wade habe ich jetzt höchstens angehobene Mundwinkel, wenn ich abbremsen muss, weil eine Horde Gänse vor mir über die Strasse watschelt oder ein mit zwei Holzfässern und einer Matratze beladenes Motorrad an mir vorbeizieht.

Es ist nicht nur der Verkehrsfluss, in den ich mich mit wachsendem Selbstvertrauen einschmiege. Auch sonst befinden wir uns bereits mitten im Fluss der Gewohnheiten. Routine breitet sich aus. Ich erkenne die Leute hinter der Theke im Café, das Sicherheitspersonal vorm Supermarkt winkt uns schon von Weitem zu, Google Maps bleibt öfter aus. Ich weiss, wo die (meisten) Schlaglöcher sind auf unserer Quartierstrasse und wie ich mich gegen das widerspenstige Eingangstor drücken muss, damit ich es entriegeln kann. Wir müssen auch nicht mehr jeden Tag einkaufen gehen, sondern haben ein paar Vorräte im Haus und können dann zum Beispiel spontan einen Pizzateig backen oder einen Apérodrink mixen.


Und trotzdem: Da ist diese Frage, die mich manchmal anspringt, wenn ich mit meiner Morgenroutine durch bin und dann durchs Haus watschle. Was jetzt? Vielleicht Tagebuch schreiben, wie Bridget Jones - mit Chardonnay und "All by Myself" im Hintergrund. Oder doch besser proaktiv sein, bevor mich das Netflix-Loch verschluckt. Meine Agenda? Leer. Kein Meeting, keine Deadline, keine E-Mails, die mich drängeln. Theoretisch ein Traum. Praktisch? Eine Herausforderung. Zu viel Struktur, und mein Tag wird ein To-do-Listen-Marathon. Zu wenig Struktur und ich wabere ziellos durch den Tag und bin am Abend frustriert, weil ich überhaupt nichts erlebt oder erledigt habe. Der Grat dazwischen ist oft schmal. Darauf balancieren ein Seiltanz. Hinzu kommt, dass hier in Kenia Pläne eher Vorschläge als Fixpunkte sind. Spontaneität ist nicht nur erlaubt, sie ist oft die bessere Strategie.
Das habe ich neulich selbst erlebt. Mein Plan: ein produktiver Tag im Co-Working-Space vom Leo's Project in der Innenstadt. Mein tatsächlicher Tag: Kaffee geholt, Naomi getroffen, plötzlich mit ihr auf dem Weg zu einer lokalen Non-Profit-Organisation gewesen. Und als ich dann dort sass und Ann Muriuki gebannt zuhörte, wie sie mit leuchtenden Augen von ihrer Mission erzählte, machte ich mir heimlich eine "mental note", dass ich auch zukünftig meine Tagespläne flexibel genug halten will, um solche Spontanausflüge zuzulassen. Denn der Besuch bei Ann Muriuki und ihrer Organisation Binti Mwangaza entpuppte sich als super inspirierend und spannend. Binti Mwangaza begleitet Frauen auf dem Weg zur finanziellen Unabhängigkeit und klärt durch Schulbesuche und Workshops über den Menstruationszyklus auf. So trägt sie zur Enttabuisierung bei und ermöglicht Mädchen und Frauen, auch während der Menstruation zur Schule zu gehen und zu arbeiten - eine Selbstverständlichkeit, die in vielen abgelegenen Regionen Kenias noch fehlt.
Auf dem Rückweg liess ich die Eindrücke noch etwas auf mich wirken. Vielleicht ist das der Trick, dachte ich. Einen Tagesplan haben, sich jedoch nicht zu sehr daran festkrallen. Stattdessen offen bleiben für die Geschichte, die das Leben einem serviert. Wie beim Segeln - oder in der Musik. Eine Seglerin muss ihr Boot im Griff haben, aber auch bereit sein, wenn der Wind plötzlich dreht. Und eine Jazzmusikerin kann schon improvisieren, solange sie die Grundstruktur der Musik kennt. Ohne Rahmen keine Improvisation, ohne Improvisation keine Lebendigkeit. Also ja, ich plane mir bewusst Raum für Spontaneität ein - aber nicht, um sie vorherzubestimmen, sondern um ihr eine Bühne zu bieten. Damit das Leben dazwischen spielen kann. Vielleicht ist es dann weniger echte Spontaneität als vielmehr eine geplante Ungeplantheit.
Doch in der Realität fühlt es sich nicht immer so leicht an. "Improvisieren", "offen sein", "Spontaneität einplanen" - das klingt supercool. Doch oft fühlt es sich eher so an, als würde ich irgendwo draussen auf dem Ozean in einer Nussschale herumpaddeln - Life of Pi, nur ohne Tiger, aber mit ähnlicher Ratlosigkeit. Die Richtung mehr Intuition als Kenntnis. Ausschau haltend nach einer schönen Insel, die plötzlich irgendwo auftaucht. Vielleicht. Ohne Garantie. Denn nur weil ich offen bin, heisst das nicht, dass das, was spontan passiert, auch immer grossartig ist. Oder dass überhaupt etwas passiert. Vielleicht treibt man einfach nur herum, schaut sich um, wartet - und nichts. Und dann? Weiterpaddeln? Weiter paddeln, während Lorenz neben mir auf einem Jet Ski gezielt über die Wellen prescht. Natürlich kann ich hinter ihm her paddeln. Oder ein Lasso werfen und mich mitziehen lassen. Dann bin ich mit meiner Nussschale zwar irgendwie dabei, während meine Autonomie jedoch in die Tiefen des Ozeans versinkt.
Vielleicht gibt es ja einen anderen Weg. Einen Mittelweg zwischen "ziellos treiben" und "mitziehen lassen". Ich könnte ein Segel setzen in meiner Nussschale. Und Segel setzen bedeutet für mich: nicht einfach passiv darauf warten, dass sich Türen öffnen oder sich spontane Besuche bei einer NPO ergeben. Stattdessen bewusst an Türen anklopfen. NGO's und Research-Organisationen anschreiben, mich informieren, ob irgendwo Networking-Events, Workshops oder Seminare stattfinden. Mich einbringen. Neue Skills erwerben. Eigene Wege erkunden. Und nein, ich werde nicht mit wehenden Haaren Richtung Sonnenuntergang segeln und Lorenz auf der Landkarte zu einem "Früher war hier mal eine Freundin"- Punkt degradieren. Aber ich will dieses Abenteuer nicht in einem Seitenwagen eines Motorradgespanns erleben. Ich will nicht im Rettungsboot sitzen, das passiv vom Mutterschiff mitgetragen wird. Ich will mein eigenes kleines Segelboot bauen und steuern - mit meinem eigenen Kurs, meinem eigenen Wind in den Segeln.
Aber genau da liegt aktuell noch die Herausforderung. Noch herrscht Flaute. Aber ich kann die Segel setzen, bereit sein und Ausschau halten nach dem Wind. Kein zielloses Umherpaddeln, nicht den Abschleppdienst aufbieten, sondern vertrauen, dass irgendwann eine Brise kommt - warten, aber mit dem Segel in der Hand. Und vielleicht, ganz leicht, spüre ich bereits eine erste Brise. Ein freundliches "Let's talk!" auf eine meiner Mails. Ein Hinweis auf einen Workshop, der mich interessiert. Ein Angebot zum Reinschnuppern in den Arbeitsalltag einer NPO. Noch kein Sturm, aber genug, um die Segel gespannt zu halten.
Ich sitze hier im Café. Der Cappuccino neigt sich dem Ende - dafür hat sich das Word-Dokument ganz anständig gefüllt. Fortschritt ist relativ. Meine Gedanken haben sich sortiert, meine Segel sind gesetzt. Draussen rauscht das Leben weiter, irgendwo in der Ferne hupt ein Matatu. Ich nehme den letzten Schluck meines Cappuccinos - und vielleicht, ganz leicht, spüre ich den ersten Windhauch. Segel gesetzt.



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